Kinder entdecken

Von Anfang an ist das Leben ein Gemeinschaftswerk. Das Kleinkind bringt ganz erstaunliche beziehungsstiftende Fähigkeiten mit auf die Welt.

Erinnern sie sich doch einmal!

Jede Frau war eine Tochter, jeder Mann ein Sohn; wir waren alle mal so alt wie unsere Kinder. Erinnern Sie sich doch einmal: Worauf waren sie als 3-Jähriger stolz? Wovon haben sie als Kind geträumt? Was hat sie als Kind glücklich gemacht? Was hat sie am meisten gekränkt? Was hätten sie als Kind vor allem gebraucht?

Kindheit und Jugend hat Folgen für das ganze spätere Leben. Die Erfahrungen, die wir in dieser Zeit mit unseren Eltern machen bestimmen unsere Fähigkeit zu Glück und Zufriedenheit.

Was ist anders mit Kindern?

Im Zusammenleben mit Kindern  ändert sich für die Erwachsenen strukturell alles: Aus einem Liebespaar wird ein Erziehungsteam. Eltern müssen lernen, entwicklungsbezogen zu denken. Plötzlich stehen neue Themen im Vordergrund: Hurra, es ist ein Mädchen! Geschlechtsspezifisches Handeln schleicht sich auf Samtpfoten aber unabweisbar ins Familienleben. Neue Spielräume tun sich auf. Sprachliche und kognitive Momente treten zurück, affektive, spontane und spielerische rücken in den Vordergrund. Kinder spielen, erzählen, hören gerne Geschichten, finden eine Symbolsprache für ihre Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche. Sie springen problemlos zwischen Phantasie und Realität hin oder her. Dies ist ihre genuine Möglichkeit sich auszudrücken und die Welt zu erkunden.

Im alltäglichen Zusammenleben verschieben sich laufend die Gewichte. Gestaltungs- und Definitionsmacht werden neu verteilt. Eltern müssen man lernen, sich in Frage stellen zu lassen, Kontrollillusionen loszulassen und einen Hang zum Perfektionismus aufzugeben.

Paradoxerweise beruht die moderne Familie als soziales System, wie sie heute von den meisten Menschen gelebt wird, auf einem strukturellen Widerspruch zwischen Eltern- und Paarebene. Nach einer kurzen Phase als Paar, in der Mann und Frau aufeinander zugehen, sich intensiv begegnen, als  potenziell gleichberechtigt erfahren, erfordert die Erziehung von Kindern und ökonomische Grundsicherung der Familie heute mehr denn je eine Spezialisierung und somit wieder größere Trennung der Geschlechter: mit Kindern ist wieder Arbeitsteilung gefragt, nicht Gleichstellung. Mehr als drei Viertel der Frauen geben nach der Geburt Erwerbstätigkeit und Ausbildung erst einmal auf und übernehmen den Hauptteil der Kinderversorgung, wofür sie kaum Anerkennung erhalten. Frauen fühlen sich daher zu Recht signifikant eingeschränkter als Männer. Nicht zuletzt deshalb steht Elternschaft in Konkurrenz zu anderen attraktiven Lebensmöglichkeiten und Lebensentwürfen.

Ein Kind kann die Paarbeziehung stärken oder schwächen. Viele Paare gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass sich ihre Beziehung schon irgendwie weiterentwickeln wird, so als wäre Liebe das einzige auf dieser Welt, was ausschließlich aus sich heraus lebt und wächst. Aber ganz im Gegenteil: Eine Beziehung muss täglich gepflegt und genährt werden, braucht Zeit, erotische Energie, Gespräche und Begegnungen, Gesten und Worte.

Was bringen Kinder mit in die Welt des Paares?

Von Anfang an ist das Leben ein Gemeinschaftswerk. Das Kleinkind bringt ganz erstaunliche beziehungsstiftende Fähigkeiten mit auf die Welt. Sofort ist es als Partner an der Entwicklung seiner ersten und bedeutendsten Beziehungen beteiligt. Wenn Kinder auf die Welt kommen, suchen sie nicht blind, sondern nach etwas was sie schon kennen, nach etwas, was ihnen Nähe, Sicherheit, Geborgenheit und Nahrung verheißt. Ein Baby ist brillant dafür ausgestattet, Eindrücke, Muster und Reize aufzunehmen und zu verarbeiten. Unerreichbar ist seine Meisterschaft, Beziehungen zu gestalten.

Wir werden mit einem genetischen Gedächtnis und nicht als tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt geboren. Wir bringen eine Idee mit, wie das Leben hier auf dieser Erde für uns zu sein hat, so dass es sinnvoll, lebbar und lebenswert wird. Wir kommen mit einer genetischen Ausstattung zur Welt, die es uns ermöglicht, unser persönliches und das Überleben unserer Spezies zu gewährleisten. Man könnte die gesamte genetische Information auf den Punkt bringen: „du sollst überleben“. Dies ist sozusagen der genetische „Klaps“, den wir mitbekommen. Das Kind „weiß“, dass dort draußen Menschen sein sollten, die es freundlich in Empfang nehmen, das da eine Mutter sein sollte, die eine nährende Brust besitzt, die es hält, die es vor Gefahren schützt. Es erwartet und braucht Menschen, vorzugsweise seine leiblichen Eltern, die seine basalen Bedürfnisse im richtigen Moment und Alter befriedigen. Leider ist es nun nicht so, dass wir alle, wenn wir auf diesen Erdball kommen, optimale Bedingungen vorfinden. Mütter sind depressiv und mit sich selbst beschäftigt, Kinder sind unerwünscht, Väter sind abwesend, Eltern sind auf der Flucht, die Familie hungert. Jedes Neugeborene muss daher auch ungeheuer flexibel und anpassungsfähig sein. Seine Eltern können in London oder Lima leben. Es muss offen sein, japanisch oder finnisch zu lernen. Es kann nicht vorhersagen, welche Eltern in welchem Winkel der Erde es erwarten, ob es draußen kalt oder heiß ist, ob die Hände, die es in Empfang nehmen, farbig oder weiß sind, ob es willkommen ist oder nicht. 

Babys und Kleinkinder sind aktive Mitgestalter des gemeinsamen Tanzes

Ein menschlicher Säugling hat wie alle Primaten eine angeborene Neigung, die Nähe einer vertrauten Person zu suchen und zu finden. Es bietet sich natürlich diejenige an, die er neun Monate schon kennen und schätzen gelernt.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich Baby und Mutter begegnen, wie sie einen gemeinsamen Rhythmus, eine dynamische Balance und Ausgewogenheit entwickeln. Noch eine zweite Beobachtung kommt hinzu, um das feine Zusammenspiel von Mutter und Baby ganz zu verstehen: Das eigentliche Fundament für einen Tanz der Liebe ist die Fähigkeit von beiden, gemeinsam mit den unvermeidlichen Störungen und  Unterbrechungen dieses Tanzes umzugehen. Einmal aus dem Takt gekommen, gelingt es ihnen elegant, Irritationen zu überwinden und die Brüche zu kitten.

In den ersten gemeinsamen Lebensjahren entwickelt jedes Kind eine ganz besondere Beziehung zu den Personen, mit denen es vor allem zu tun hat. Mit Eltern auf die es sich in Stress- und Angstsituationen verlassen kann, entwickelt es eine sichere Bindung. Die Kinder lernen und wissen, dass sie von ihnen gemocht und tatkräftig unterstützt werden. Haben Kinder weniger günstige Bedingungen, entwickelt sich eine ängstlich-ambivalente Bindung. Sie leben in einer ständigen Ungewissheit, ob und wann sie auf ihre Eltern zählen können. Ihre Trennungsängste werden verstärkt, sie fangen an zu klammern, orientieren sich weniger offen und begegnen ihrer Umwelt misstrauischer. Kinder mit ängstlich-vermeidender Bindung rechnen sogar ständig damit, dass sie von ihren Eltern in erster Linie Ablehnung zu erwarten haben. Sie lernen auf fremde Hilfe und Zuneigung zu verzichten und eine Art überpointierter Autarkie zu entwickeln. Nach all dem Gesagten verwundert es nicht, wie sehr Kinder für eine gesunde Entwicklung auf  genügend gute und sensible Mitspieler angewiesen sind. Das Quartett Gewalt, Sucht, Krankheit und Armut  kann eine gesunde Entwicklung innerhalb der ersten drei Lebensjahre nachhaltig aus der Balance bringen. Babys lernen zwar mit einer unsicheren, ambivalenten oder desorganisierten Bindungserfahrung umzugehen. Die Crux ist aber, dass sie solche Erfahrungen auch in ihrem Erwachsenenleben tendenziell eher erwarten oder befürchten.

Deshalb ist die Vermeidung von liebevoller Interaktion, die Unterdrückung der eignen Sensitivität und die Weigerung, sich von Kindern berühren und bewegen zu lassen, der einzig wirklich kaum wieder gut zumachende Fehler, den man als Vater oder Mutter machen kann.

Vater-Mutter-Kind oder Kindergeschichten sind Dreiecksgeschichten

Wenn wir also genau hinsehen beginnt das Leben immer zu dritt. Das Kind, als Phantasie beider Eltern, existiert längst, bevor es geboren wird. An der Lebensgeschichte des Kindes strickt ein Paar längst bevor es das Licht der Welt erblickt. Ein Kind kommt in eine Welt, die längst schon mit Idealisierungen, Hoffnungen und Befürchtungen, mit Wünschen und Ängsten der Eltern bevölkert ist.

Wie die dreizehn Feen im Märchen legen sie ihre Geschenke dem Kind in die Wiege. Für ein Kind ist die Triade die kleinstmögliche Überlebenseinheit. Kindergeschichten sind immer Dreiecksgeschichten. Selbst während einer Zeit engster Beziehung zwischen Mutter und Kind, während Schwangerschaft, Geburt und Stillphase, ist der Vater als Dritter, als „Erzeuger“, als Geliebter und als tragender, unterstützender Partner präsent. Anderenfalls wird er als solcher vermisst oder hinterlässt eine Leere, die gefüllt werden will.

Die triadische Struktur ermöglicht zwei grundverschiedene Typen von Sozialbeziehungen. Entlang ihrer Grenzen muss ständig neu verhandelt werden:

  • die Paarbeziehung mit der Geschlechtsgrenze
  • die Eltern-Kind-Beziehung mit der Generationengrenze.

Die Aufgabe der Familie ist es, gemeinsam entsprechend dem Entwicklungsstand der einzelnen Mitglieder einen passenden Generationen- und Geschlechtervertrag auszuhandeln und ihn mit Leben zu erfüllen. In der familiären Triade lernt ein Kind sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen, sich abzugrenzen und sich zu identifizieren. Ein kleines Mädchen erlebt sowohl die gleichgeschlechtliche Mutter, als auch den gegengeschlechtlichen Vater. Es sieht nicht nur seine Eltern als Mann oder Frau, sondern auch die Art, wie sie miteinander ihre Beziehung leben. Diese Grundstruktur bleibt lebenslang erhalten und wirksam. Die Besetzung mag sich ändern, aber das Stück bleibt gleich.

In seiner Entwicklung vom abhängigen Baby hin zum Subjekt, zum autonomen, bezogenen Erwachsenen lernt das Kind in der Triade die wichtigsten Lektionen seines Lebens. Eltern können wesentlich zum Gelingen beitragen, wenn sie achtsam, verständnisvoll, präsent und responsiv sind, wenn sie ihr Kind aufmerksam „im Blick“ haben. Das heißt: Sie haben keine zu hohe Wahrnehmungsschwelle oder sind zu sehr abgelenkt. Sie interpretieren die Äußerung ihres Kindes auch richtig und sind in der Lage, zeitweilig ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, um nach ihrem Kind zu sehen und adäquat zu antworten. Sie reagieren rechtzeitig und prompt, so dass dieses wiederum sein Verhalten in Bezug auf das elterliche Verhalten erleben kann. Die Reaktionen der Eltern sind angemessen. Sie sind nicht heftiger aber auch nicht zurückhaltender, als es der Säugling aufgrund seiner Entwicklung verarbeiten kann. So wachsen und entwickeln Eltern sich mit ihren Kindern.

Also haben sie Geduld, seien sie achtsam und präsent.

Wenn Gras zu langsam wächst, kann man es nicht mit der Zange beschleunigen, sondern höchstens aus der Erde ziehen. Wenn ihr Apfelbaum krumm wächst, können sie ihn beschneiden, wenn er nicht genug Früchte trägt können sie chemisch nachhelfen, sie bekommen Äpfel, aber andere. Wie gut er gedeiht, wie wohl er sich fühlt, können sie ihm in jedem Frühling direkt ansehen.

Helmut Wetzel